Marie Sophie Hingst: Irgendwas mit Geschichten, die einfach zu schön sind #readonmyfake

Digitalien

Edit: Heute, am 27. Juli 2019, hat die Irish Times in ihrem Artikel The life and tragic death of Trinity graduate and writer Sophie Hingst berichtet, das Marie-Sophie Hingst am 17. Juli verstorben ist. Ich hatte so sehr gehofft, dass diese Nachricht niemals kommen würde. Nicht so. Nicht jetzt. Meine Gedanken sind bei ihrer Mutter und bei jenen, die ihr nahe geblieben sind. Es tut mir sehr leid.

‚My daughter has many realities and I only have access to one,‘ Sophie’s mother said, and told of her daughter’s years of struggle with mental illness, repeated attempts at therapy.

Mein Beitrag vom 8. Juni___________
Geht es immer um die Wahrheit? Oder wollen wir doch schon mal ganz gerne auf blumige Weise betrogen werden? Ist alles verloren, wenn es nicht so echt war, wie erhofft? Gedanken über das Leben und das Erleben.

Der Aufschrei war groß. Und er beschäftigt immer noch viele viele Menschen. Es geht um diese Bloggerin, deren Bloggeschichten so schön waren, dass fast eine Viertelmillion Menschen sie lasen. Ob die Zahl stimmt, habe ich nicht geprüft, nur irgendwo aufgeschnappt. Vielleicht ist sie aber auch egal. Ihre Geschichten waren so schön erzählt, so berührend und im Kern so positiv und mutmachend und trostgebend und motivierend, dass traditionelle Medien auf sie aufmerksam wurden, und dass die Bloggerin, die Mademoiselle, auch dafür ausgezeichnet wurde.

Durch letzteres bin ich auf sie aufmerksam geworden, als sie den Goldenen Blogger erhielt, für ihr Blog „Read on my dear. Read on.“ der Ihr nun wieder aberkannt wurde. Auf der Preisverleihung verlas sie die 318. Postkarte, die sie an den damals noch inhaftierten Deniz Yücel geschrieben hatte. Ich klickte „Folgen“ auf ihrem Twitter-Account. Und fortan wurde sie mir dann und wann in die Timeline gespült, wenn sie wieder gebloggt hatte oder sich an tagesaktuellen Themen beteiligte, die in meiner Algorithmus-Bubble stattfanden.

Hatte ich Zeit, mal einen Text zu lesen, dann hinterließ er meist ein Lächeln. Weil sie so schön schrieb. So mit aufmerksamen, kleinen gefühligen Details, die mich daran erinnerten, wie gut es tut, sich an kleinen Dingen zu erfreuen. Diese ganze Geschichte um Yad Vashem, diese Geschichten die sie über ihre Familie schrieb, die gingen an mir vorbei. Dafür las ich sie einfach viel zu unregelmäßig.

Geschichten, die Menschen brauchen, die Geschichten brauchen

Und dass der vor allem vergnügliche Text über den Aufklärungsunterricht mit männlichen Flüchtlingen in der ZEIT von ihr stammte, das war mir nicht mal bewusst. Ich fand ihn prima, ich habe an vielen Stellen geschmunzelt und vor allem gefiel mir diese Idee, mit Männern offen und unaufgeregt über Sex zu reden. In einer Zeit, in der sich die Diskussion über „übergriffige Männer aus anderen Kulturkreisen“ ins Hysterische hochgeschaukelt hatte. Und ich weiß noch, dass ich damals dachte: Das sollte es nicht nur für männliche Flüchtlinge, sondern auch für männliche Deutsche mit Aufklärungsbedarf geben.

Dass der Text keine nüchterne sachliche Darstellung, sondern eine Verdichtung, Zuspitzung, gespickt mit Ausschmückungen  war, war mir damals bewusst. Nicht zuletzt wegen fehlender negativer oder unschöner Reaktionen der Protagonisten. Die es, wie ich weiß, in einem solchen Szenario ganz sicher gegeben hätte – unter anderem wegen der befremdlichen Art der Bevormundung und Missionierung, die hier transportiert wurde. Und es störte mich nicht, da ich in einem solchen Fall zugunsten der schönen Leserlichkeit und der positiven Grundmessage, die zu diesem Zeitpunkt irgendwie wichtig und nötig war, auf harte Fakten verzichten konnte. Ja, auch in einer Zeit, in der das Festhalten an Fakten wichtiger denn je ist… Doch wie bereits gesagt: Diese Geschichte war für mich einfach eine Geschichte. Ich fragte hier gar nicht nach der Wahrheit, weil ich sie nicht brauchte. Ich brauchte die Geschichte.

Der Verlust der Unschuld

Nun schäumt es nicht nur in meiner Blogger-Bubble seit Ende Mai vor Wut. Da kocht das Blut, ich lese Schreien und Kreischen, ich lese Fackeln und Forken, lese Ungläubigkeit, Häme und tiefe Trauer. Diese Trauer lese ich nicht zuletzt in den bisher letzten Tweets der Bloggerin, aber dazu komme ich später noch.

Ich lese Scham, vor allem bei den Kolleginnen und Kollegen der professionellen Schreib-Zunft, die pflichtschuldigst darlegen, wie und warum sie von ihr, der Bloggerin, trotz allen Gegenchecks und Eigenrecherchen, getäuscht worden waren, als sie ihre Texte veröffentlicht haben.

Es war auch ein professionelles Medium, das aufdeckte, dass der Wahrheitsgehalt der Geschichten der Geschichtenerzählerin gen Null geht: Es war DER SPIEGEL, der nach dem Fall Relotius besonders sensibilisiert auf Geschichtenerzähler ist. Und der Unterschied zwischen dem Journalisten dort und der Bloggerin hier, ist vielleicht gar keiner: So wie die Leserinnen und Leser des SPIEGELS davon ausgingen, dass trotz aller bildhafter gefühliger Sprache alle zugrundeliegenden Fakten auch tatsächlich Fakten sind, basierend auf dem jahrzehntealten qualitätsjournalistischen Anspruch des Hauses, so hatte es auch diese Bloggerin geschafft, über Jahre hinweg bei ihren Lesern ein Ur-Vertrauen aufzubauen. Nicht auf journalistischer Grundlage. Einfach auf menschlicher. Jemand, der so schöne Geschichten erzählen kann, der kann ja kein schlechter Mensch sein. Und lügen tun ja nur schlechte Menschen. Oder?

Lügner mit Sonne im Herzen zum Weitergeben

Ich habe andere Erfahrungen gemacht, immer wieder. Da war dieser Junge, in den ich so verliebt war, als ich noch ein Mädchen war. Er war meine Sonne. Ein wunderbarer Junge, der sich nie in den Vordergrund spielte und mir das Gefühl gab, in Sicherheit zu sein. Er war ein Liebender, ich war sein Mädchen, sein Libellchen, sein Augenstern.
Ich war es nur nicht exklusiv. Wir arbeiteten in der selben Stadt, er lebte in einer anderen. Dort liebte er ein anderes Mädchen, Libellchen, Augenstern. Ich starb fast vor Verletzung, Trauer und Ohnmacht, als ich es heraus fand. Und er auch.

Die Geschichte ist über 25 Jahre her. Es waren nur ein paar wenige Monate. Und dennoch spüre ich bis heute seine Sonne in meinem Herzen. Und die Trauer über den Verlust. Als ich ihn nach 15 Jahren in einer ganz anderen Stadt zufällig da an der Straße stehen sah, da klopfte mir das Herz bis zum Hals. Während mein Kollege neben mir ahnungslos weiterredete und wir uns meiner ersten großen Liebe näherten, schossen mir Gedanken durch den Kopf: Ignorieren? Grüßen? Eine reinhauen?

Dann erkannte er mich und da stand auf einmal diese spontane, ehrliche, offene Freude in seinem Gesicht. Und mein Herz platzte auf und wir lagen uns in den Armen und freuten uns ganz echt und wahrhaftig über unser Wiedersehen. Und als wir uns später zum Kaffee trafen und ich ihn erzählen hörte von all den Geschichten, die er erlebt hatte und all dem, was mit uns einmal großartig war, da musste ich lächeln. Ich erkannte in seinen Geschichten dieses unglaubliche Talent, den Menschen zu erzählen, was gut für sie war. Ich wusste an diesem Tag, dass das meiste erfunden war. Und ich ließ es geschehen, weil ich merkte, dass es gar nicht wichtig war.

Zumindest für mich nicht. Für ihn war es das schon. Und ich freute mich, dass es ihm auf seine Weise gut ging. Denn ich wusste auch um sein Leben vor uns, und ahnte, warum er diesen Weg gewählt hatte, damit umzugehen. Er ist im Herzen ein wunderbarer Kerl, der niemandem etwas Böses will. Er kann nur nicht bei der Wahrheit bleiben. Und heute kann ich ihn so sein lassen.

Wie auch diesen begnadeten Musiker, der seine Tournee abbrechen musste, wegen Burn Out. Seinen Therapeuten erzählte er von seiner schlimmen Kindheit, die in Wahrheit seine Mutter erlebt hatte. Er kann selbst nicht sagen, warum er diese Geschichte als seine eigene ausgegeben hat. Er ist im Gegensatz dazu so wohlbehütet und liebevoll aufgewachsen. Aber wenn er davon erzählt, jetzt von der Geschichte der Kindheit seiner Mutter, dann spürt man den Schmerz so tief, als sei es seine eigene.
Für seine Familie war sein Storytelling zunächst ein Schock und tiefe Verletzung. Nun gehen sie damit um.

Liebende Mütter ohne Kinder

Ich erinnere mich an die Zeiten meiner Schwangerschaften, in denen Babyforen state of the art waren und Frauen gemeinsam in virtuellen Wehen schrieben, und sich gemeinsam in den ersten Monaten und Jahren ermutigten, aufbauten und halfen, wenn der Alltag mit Baby und Jungfamilie recht komplex war.

Nicht nur einmal und nicht nur in einem Forum erlebte ich dort Frauen, die über Jahre und täglich vom Leben mit ihren Kindern schrieben. Die immer ein offenes Ohr für die anderen hatten, die immer mit Ratschlägen und auch praktischer Hilfe zur Seite standen, zum Beispiel indem sie ein gebrauchtes Tragetuch verschenkten oder ortsgebundene Empfehlungen für die eigene Stillberaterin gaben. Ich erinnere mich an viele viele dankbare Frauen, denen sie wirklich geholfen hatten. Aber auch an den hysterischen Mob, wenn heraus kam, dass all diese Geschichten erfunden waren, die sie erzählt hatten. Mal durch die selbst empfohlene Stillberaterin, die sich nicht an sie erinnern konnte. Mal durch widersprüchliche Erzählungen oder die xte merkwürdige Ausrede, warum jemand nicht zu Treffen kommen konnte.

Ja, es war ein bisschen entsetzlich zu erfahren, wenn es nicht einmal ein Baby gab. Dass dort einmal eine Frau schrieb, die gar keine Kinder hatte. Sie schrieb jahrelang. Als alles heraus kam, entsetzte mich vor allem die Gewalt der Betrogenen. Als wollten sie sie brennen sehen.

Und gleichzeitig las ich ich den letzten mal hilflosen, mal trotzigen Zeilen der Aufgeflogenen die ohnmächtige Trauer eines Verlustes. So als wäre durch das Aufdecken des Fakes jemand Nahestehendes plötzlich verstorben.

Verlust durch Auffliegen

Auch bei dieser Bloggerin, über die ich in den letzten Tagen mehr gelesen habe, als je von ihr, spüre ich dieses Entsetzen über einen unwiderbringlichen Verlust in ihren bisher letzten Tweets. Ich empfinde ihre Worte als die eines traumatisierten Menschen, der den Tod eines Geliebten noch nicht wahr haben will, und dann doch erkennen lässt, dass er weiß, dass es vorbei ist.

Vielleicht, weil ich ihr nicht nahe genug stand, um mich betrogen genug zu fühlen, spüre ich in mir den Impuls sie einfach mal in den Arm nehmen zu wollen und ihr zu sagen: Es ist vorbei. Lass los.

Und auch: Du darfst trauern und weinen und schreien, wie alle anderen auch. Und vielleicht, irgendwann, wirst Du dann auch wieder schreiben. Denn wir brauchen gute Geschichten.

Nur werden wir diesmal vielleicht gelernt haben, dass die schönsten Geschichten nicht immer die wahrsten sein müssen. Und dass das auch nicht schlimm ist, wenn wir darum wissen.

Latte Macchiato unter dem Apfelbaum

Denn besteht nicht unsere gesamte Kultur, unser ganzes Mensch-Sein auf der Basis von Geschichten die erzählen, wie es sein sollte. Geschichten, die von Regeln des menschlichen Miteinanders erzählen, die höhere Mächte uns Menschen vermittelt haben sollen? Von denen wir heute wissen, dass sie so nicht geschehen sein können? Die uns aber dennoch immer noch Trost und Anleitung und Orientierung geben für ein menschliches Miteinander? In einer dieser Geschichten steht etwas von dem ersten Stein den jener werfen solle, der ohne Fehler ist.

Vielleicht denken wir darüber nach, wenn wir unseren künstlerisch gestalteten Latte Macchiato für ein Instagram-Bild ins schönste Licht setzen und den Zweig des blühenden Apfelbaums für einen zauberhaften Hintergrund hinunterbiegen, während wir uns über die Geschichten einer anderen erbosen.

Weiterführende Links

Konstanze Kobel-Höller: „Wir wollten eigentlich nur, dass sie damit aufhört“, schildert der Altphilologe und Genealoge Ingo Paul (44), der eine Datenbank führt, in der mehr als 180 000 Juden aus dem Deutschen Reich erfasst sind. Wie er wusste, dass es sich dabei um Geschichtsfälschung handeln müsse? „So etwas erkennt man sofort, wenn man damit zu tun hat“, sagt er.“
und
„Was sie verbreitet hat, war unerträglich für jemanden, der jüdische Vorfahren hat,“ sagt Paul. Er ist der Meinung, Hingst sollte sich öffentlich dazu äußern und entschuldigen.“
Teltowerin deckt Geschichts-Skandal um Bloggerin Marie Sophie Hingst auf,

Juna Grossmann: „Vielleicht glaubte sie selbst ihre Geschichten. Eigentlich wollte sie doch nur kochen.“  und „Alle wussten immer schon alles, alle waren schon immer kritisch und alle haben es nie geglaubt. geschmeckt hat es schon gar nicht. Alle aber haben die Nähe gesucht, die Nähe zur Sauberkeit, zum Grusel und alle echauffierten sich, dass die Wirtin da Andenken der Toten beschmutzen würde. “
Das Gewürz von Auschwitz

Katrin Hilger: „Auch die Presse und die Bloggerszene lagen ihr zu Füßen. Denn unter Weltrettung darf man es nicht machen, wenn man Bloggerin des Jahres werden will.“ und „Aber ich muss auch kritisch mit mir selbst sein. Ich hab die leidvollen Ergüsse verfolgt – auch ich bin reingefallen. Ich war Voyeurin. Wenn ich das jetzt verkürzt lese: wie kann es sein, dass ich das geglaubt habe? Im Gegenteil sogar: Ich war immer ein wenig beschämt und sogar neidisch: ich bin doch Nachhaltigkeits-Bloggerin, warum gehe ich nicht nach Bangladesch, Sweatshops eliminieren?“
Erfolgreicher Blog? Mach Dich nackig!

Christiane Dreher: „Und natürlich weiß ich, dass man Sachverhalte manchmal rundet, damit sie witziger rüber kommen. Damit es am Ende des Textes eine Pointe gibt. So mache ich es auch, hin und wieder zumindest. Das Meer ist dann vielleicht ein bisschen blauer oder die Nachbarin ein bisschen neugieriger oder Monsieur ein bisschen muffiger. Oft genug muss ich Familie oder Freunde beruhigen, dass sie nicht alles wortwörtlich nehmen sollen. Ja, so ist es gewesen, das Große und Ganze stimmt, aber ich erzähle auch eine Geschichte.“ und „Vielleicht sollte ich wütend sein, getäuscht worden zu sein, aber ich bin es nicht. Ein bisschen durchgeschüttelt bin ich, zugegegeben, aber ich fragte mich sogleich, warum musste diese kluge junge Frau, die so sympathisch und schlicht daher kommt, warum musste sie sich dieses Leben erfinden?“
Und das Kälbchen? Frl. ReadOns Geschichten 

Geschichten und Meer: „Ich bin nicht frei von Schuld, vor allem nicht in dieser Angelegenheit. Wir alle verfremden im Internet, wenn uns unser Privatleben lieb ist. Wir verfremden, um uns selbst, aber auch um die handelnden Personen zu schützen. Die meisten von uns setzen sich dabei jedoch selbst Grenzen.“ und „Aber auch, wie ich falsche Töne in ihren Mails zu hören begann. Wie ich eines Tages auf ihrem Blog einen Text las, der in Stil und Thema sehr den Texten ähnelte, die ich zu der Zeit schrieb.“
Ich kannte sie. Kannte ich sie?

Klaus Graf: Der Historiker führt sachlich Causa und Quellen auf. „Doerrys abschließender Wertung kann man zustimmen: ‚Solche Hochstapeleien sind kein Verbrechen, aber skandalös sind sie allemal. Wer Holocaust-Opfer erfindet, verhöhnt im Nachhinein all jene, die wirklich von den Nazis gequält und umgebracht wurden.'“

Er hat auch das letzte Statement im nun gelöschten Blog von Marie Sophie Hingst im Google-Cache gefunden, das ich hiermit zitiere: „Seit seinem Bestehen, also seit 2013 war und ist dieses Blog ein literarisches Projekt. Es fiktionalisiert und literarisiert, es beschreibt und umschreibt, es setzt exemplarische Beispiele und hofft so die Welt auch noch einmal ganz anders sichtbar zu machen.  Der Ich-Erzähler ist ein unzuverlässiger Erzähler, und wie alle Literatur hat es nicht das Anliegen, die Wirklichkeit originalgetreu wiederzugeben. Dieses Blog findet und erfindet, lässt aus, vermischt Fakten mit Fiktion, und war zu keinem Zeitpunkt eine Chronik oder ein Versuch schlüssiger Biographik, sondern immer nur der Versuch zu erzählen. Dieses Blog ist keine Autobiographie oder Selbstbeschreibung, sondern immer allein der Versuch zu Stimmen und Stimmungen zu finden.
Marie Sophie Hingst.“ (vom 24. Mai 2019)
Die Causa Hingst – Fragen und Antworten zu einem Skandal der Blogosphäre
Ergänzungen zur Causa Hingst, Folge 1
Ergänzungen zur Causa Hingst, Folge 2
Ergänzungen zur Causa Hingst, Folge 3 (post mortem)
Weiteres zum Tod der Bloggerin Hingst

 

Edit 24. Juni:

Dame von Welt: Noch ein lesenswerter Beitrag über das empfunden Glück und die eigene Ent-Täuschung:
Über Täuschungen

Edit 27. Juli:

Marie Sophie Hingst ist tot.
Letzter Akt.
The life and tragic death of Trinity graduate and writer Sophie Hingst

Edit 9. August:

Martin Doerry: „Der Tod der Historikerin Marie Sophie Hingst bewegt mich Tag und Nacht. Mitte Juli wurde sie leblos in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Frage, die nun alle an diesem Drama Beteiligten beschäftigt, treibt mich um: War es richtig und notwendig, über die junge Frau und ihre Lügengeschichten zu berichten?“ und „Wenn Marie Sophie Hingst während oder nach der Konfrontation eine öffentliche Korrektur ihrer Lügengeschichten angekündigt hätte, wäre der Artikel in dieser Form nicht erschienen. Zwischen unserem Gespräch am 23. Mai und dem Erscheinen der Geschichte lagen acht Tage, die ungenutzt verstrichen.“ und „Und es irritiert mich auch, dass in einigen Kommentaren auf verschwiemelte Weise darauf hingewiesen wird, dass meine Großmutter Lilli tatsächlich in Auschwitz ermordet wurde. Da schwingt die Unterstellung mit: Der Mann ist ein bisschen zu sensibel bei dem Thema. Vielleicht aber sollten vor allem jene Deutschen, die keine Angehörigen im Holocaust verloren haben, in solchen Fällen besonders sensibel sein.“
In eigener Sache: Warum der SPIEGEL über den Fall Marie Sophie Hingst berichten musste

Joachim Huber: „Obwohl die Mutter von Hingst ihn im Telefonat vorher explizit darauf hinwies, „erwähnte er Sophies Krankheit mit keinem Wort. Das hätte seine Geschichte von der Hochstaplerin, der Lügnerin und Quasi-Verbrecherin schließlich kaputt gemacht“, schrieb Rosh dem Tagesspiegel. So sei die Geschichte rund und gelungen gewesen, eine richtige „Spiegel“-Geschichte eben.“
und „In einer Todesanzeige für Marie Sophie Hingst, erschienen im Tagesspiegel am Sonntag – aufgegeben von Rosh, Annette Ahme, Christl Benchea, Stefan Noack, Renate und Rolf Kreibich und anderen – heißt es: „Keine jüdische Familie. Keine Slum-Klinik in Indien. Keine Aufklärungsstunde. Nur ein gutes Herz, das zu früh aufhörte zu schlagen, weil es nicht mehr krank sein wollte.“ “
Lea Rosh kritisiert Martin Doerry

Marlis Prinzing, Professorin für Journalistik: „Wie sollten Journalistinnen und Journalisten mit Menschen umgehen, die offensichtlich die Öffentlichkeit in die Irre geführt haben? Sie müssen dies öffentlich machen. Denn das Publikum kann nur so erfahren, dass es getäuscht wurde. Das auch im Pressekodex festgelegte Gebot der Wahrhaftigkeit verlangt solche Aufklärung von glaubwürdigem Journalismus.“ und „Verantwortungsethisch betrachtet lässt sich sagen: Wenn ein Thema öffentlich relevant ist und wenn handwerklich professionell vorgegangen wird, wie dies hier der Fall ist, dann ist es nicht der Verantwortung von Journalisten zuzuschreiben, wie eine betroffene Person reagiert, wenn ihr Fehlverhalten öffentlich bekannt wird. Wenn also Maria Sophie Hingst sich entscheidet, so nicht mehr leben zu wollen, ist das in ihrer eigenen Verantwortung.“
Das Opfer

7 Gedanken zu „Marie Sophie Hingst: Irgendwas mit Geschichten, die einfach zu schön sind #readonmyfake“

  1. Wäre sie „nur“ eine Erzählerin, die ihr Leben ein bisschen blumiger beschreibt als es tatsächlich ist, und hätte deutlich gemacht, dass sie sich die künstlerische Freiheit nimmt, es auszuschmücken, wäre dagegen nichts einzuwenden gewesen. Doch sie hat es nicht bei Geschichten bewenden lassen. Sich außerhalb ihres Blogs als Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden ausgegeben. Aufgrund dessen Vorträge gehalten etc. Es ging über schöne Geschichten hinaus. Sie wollte sich ihre falsche Identität sogar noch von Yad Vashem „bestätigen“ lassen und das zeugt von betrügerischen Absichten. Außerdem ist sie Historikerin und sollte sich als solche historischen Fakten verpflichtet fühlen.

    Antworten
    • Ich verstehe den allgemeinen Unmut, und wie ich bereits auf Twitter äußerte, ist das Ausmaß Ihrer Erfindungen so faszinierend wie verstörend. Und bei all den von Dir beschriebenen Details, die über das Schreiben von Geschichten in ihrem Blog hinaus gehen, auch nicht akzeptabel. Sondern schlicht Betrug.
      Meinen Beitrag habe ich in der Intention geschrieben auch die zu erreichen, die schnappatmend (auch gewaltandrohende) Beschimpfungen ausgesprochen haben, die weit über eine angemessene Reaktion hinausgingen. Inzwischen hat die Wutwolke sich ja gelegt, und die tobenden Gemüter sind vorerst weiter gezogen.

      Antworten
  2. Jenseits der Wutwolke scheint es mir lohnend, darüber nachzudenken, wieviel Erzählkunst die Geschichtswissenschaft braucht. Das war etwas, was Mademoiselle stellenweise ziemlich gut konnte. Das fanden enorm viele BlogleserInnen, mich eingeschlossen Nicht zufällig steckt Geschichte in Geschichtswissenschaft. Erzählt werden darf, soll, nein: muss Geschichte, meine ich als studierte Historikerin. Klar ist aber auch: Ohne Faktentreue ist es erst keine Geschichtswissenschaft.

    Antworten
    • Liebe Mathilde,
      ich glaube dass es der Wissenschaft – nicht zuletzt aufgrund der in der Wissenschaft absolut notwendigen Faktentreue – häufig an Erzählkunst fehlt. Gut erzählte Geschichten erreichen die Leser – auch die Wissenschaftler – immer besser, als eine noch so korrekte Abbildung der bekannten Fakten.

      Nicht zuletzt das ist der Grund, warum immer mehr Schulkinder mehr und besser via YouTube, als in der Schule lernen (wo sie nur auf die Themen gebracht werden, und dann in drögem Auswendiglern-Unterricht mit Fakten bombardiert).

      Auf YouTube werden Fakten anders dargestellt, transportiert, erzählt, und schon bindet es die Aufmerksamkeit der Schulkinder ganz anders.

      Was Mlle ReadOn zweifellos kann, ist gut zu erzählen. Und deshalb ist es eine Tragödie, dass sie sich nicht – gerade als Historikerin – an Fakten gehalten hat. Wer so erzählen kann, der kann auch Fakten gut vermitteln… Selbst mit dem Hinweis auf die Fiktion (im Sinne von Verdichtung, Vereinfachung, Überspitzung) hätte sie viel Wissen und Historie vermitteln können. Und sie hätte immer noch viele erreicht.

      Was für ein vergeudetes Talent.

      Antworten

Schreibe einen Kommentar