Meine Mum ist gestorben. Es war im November ’22 an einem Sonntag. Aber eigentlich war es schon am Freitag. An dem Freitag sollte sie aus dem Krankenhaus entlassen werden in eine Reha. Doch als eine Krankenschwester sie morgens wecken wollte, war meine Mum schon gegangen. Ihr Körper zeigte keine Lebenszeichen mehr. Die Ärzte reanimierten sie über 20 Minuten lang, und ihr Körper konnte sich nicht dagegen wehren. Irgendwann hatte er wieder Puls, und sie wurde auf die Intensivstation gebracht.
„Wir konnten sie wiederbeleben!“ höre ich die erleichterte Stimme einer Ärztin am Telefon. Sie glaubt, mir eine gute Nachricht überbracht zu haben. Während ich wie in Trance meinen Koffer packe, arbeiten sich in meinem Inneren widersprüchliche Gefühle aneinander ab. Ich bin ihre Tochter. Ich müsste froh sein, dass sie gerettet wurde. Aber ich weiß, dass sie nicht zu retten war.
Meine Mum war noch jung. 72, das ist heute zu früh zum Sterben, sagen viele. Wir hatten kein gutes Verhältnis zueinander. Unser ganzes Leben lang ging es uns beiden am besten, wenn wir uns in Ruhe ließen. Wir hatten uns einander nicht ausgesucht. Und auch wenn ich mich bemühte wurden wir nie warm miteinander.
Als ich eine eigene Familie gründete und weg zog, war es eine Erleichterung für uns alle. Die Distanz half uns, uns nichts vorzumachen. Keine Besuche aus Pflichtgefühl. Anrufe zu den üblichen Anlässen reichten uns beiden. Und wenn wir es doch mal versuchten, und sie zu uns kam, war es immer schwierig. Wir hatten nichts gemeinsam. Außer einer Geschichte, die kein Fundament war.
„Aber sie ist meine Mum.“ Ich buche ein Zimmer in Laufweite zum Krankenhaus und nehme einige Tage frei. Im Zug denke ich an die letzten Jahre, die letzten Begegnungen, die letzten Gespräche. Und finde nichts, was ich ihr gern noch sagen würde.
„Setz Dich einfach zu mir und halt meine Hand, bis ich tot bin.“ Das hatte sie zu mir gesagt. 2019 war das. Wir waren auf Wohnmobil-Tour und wollten gemeinsam mit ihr Kaffee trinken gehen. Stattdessen machte ich ihr etwas zu essen und überzeugte sie, sich helfen zu lassen. Ich brachte sie in ein Zentrum für seelische Gesundheit, und sie ließ es geschehen.
Ich telefoniere mit meiner Cousine. Ich telefoniere mit der Freundin meiner Mum. Sie sind bestürzt und traurig. Wir reden über die letzten Jahre. Sie erzählen mir Dinge, die ich nicht wusste, weil sie sie mir nicht erzählen durften. Meine Mum hat es ihnen verboten. Ich kann ihnen keine Vorwürfe machen. Ich weiß, wie sie ist.
Die Therapie hatte meiner Mum gut getan. Als sie wieder zuhause war, halfen ihr die ambulanten Sitzungen, im Tritt zu bleiben. Wir sprachen öfter. Wir machten Pläne. Wir wollten uns öfter sehen. Wir wollten uns wirklich öfter sehen. Wir wollten es beide. Dann kam Corona.
Ich steige aus dem Zug. Der Rollkoffer rattert hinter mir her, während ich die Treppe nach unten links liegen lasse und zum Aufzug gehe. Vor dem Bahnhof bleibe ich stehen und ziehe kurzatmig die Luft meiner Heimatstadt ein. Einen Moment lang lasse ich die Szene auf mich wirken. Die eiligen Menschen. Jeder mit seiner Geschichte. Die klingelnden Straßenbahnen. Die gurrenden Tauben. Die Erinnerungen. Ich suche auf dem Smartphone die besten Verbindungen zum Krankenhaus heraus. Dann nehme ich ein Taxi.
„Mum, Du musst Dich impfen lassen!“ Es war verrückt. Als junge Mutter hatte ich einen Abstecher in die Homöpathie gemacht, und meine Mum hatte mich damals beschworen lieber auf die Ärzte zu hören. Während Corona war es anders herum. Und das Vokabular, das sie benutzte, klang nach Quellen der Verschwörungsmystik. „Ich geh eh nicht raus.“ Und dann, irgendwann Wochen später: „Mir geht es nicht gut. Du musst kommen.“
Während die Straßen, die mir so vertraut sind, an mir vorbei fliegen, fühle ich eine müde schwere dumpfe Traurigkeit. Der Taxifahrer will wissen, warum ich in der Stadt bin. Meine Antworten sind tonlos. „Weil meine Mum im Krankenhaus im Koma liegt.“ Der Mann schaut mich bestürzt von der Seite an. Echtes tiefempfundenes Mitgefühl schwingt in seiner Stimme mit, als er mir alles Gute wünscht. Ich nicke. Ich sehe ihn nicht an.
Während Corona ins Krankenhaus zu müssen, war ein Problem. Vor allem für meine Mum. Aber der Notarzt verhandelte nicht. Es war Abend, ich war eine Stunde vorher angekommen, nachdem ich nach ihrem Hilferuf alarmiert ins Auto gesprungen war. Ihre Freundin hatte Corona und konnte nicht nach ihr sehen.
Mum war in einem schlechten Zustand. Mangelernährt und psychotisch. Der nette Rettungssanitäter schüttelte den Kopf. „Leider können Sie nicht mit. Versuchen Sie es morgen im Krankenhaus.“
Ich steige aus dem Taxi. Es ist ein anderes Krankenhaus als damals. Mum wollte nicht in das letzte Krankenhaus zurück, als sie diesmal abgeholt wurde. Ich bezahle das Taxi und gehe zum Parkplatz. Am Schnelltest-Container wartet meine Cousine. „Sie sieht furchtbar aus.“ sagt sie.
Als ich damals ins Krankenhaus kam, fand ich meine Mum auf der Intensivstation. Ich bekam keinen Einlass. Ich wartete lange in einem leeren Vorzimmer, bis ein Arzt eintrat und mir die Lage schilderte. Sie hinge am Tropf und werde beobachtet. Er sei zuversichtlich, dass sie in ein paar Tagen auf die Station könne. Ich solle nach Hause fahren, denn bis dahin könne er mich eh nicht zu ihr lassen. „Das ist 460km weit weg.“ sagte ich. „Fahren Sie,“ sagte er.
Als ich am nächsten Tag vor meiner Abreise Wäsche brachte, ließ er mich doch zu ihr, auch wenn es gegen die Regeln war. Sie lag alleine in einem blauen Raum in einem Bett, das von leise surrenden Geräten umstellt war. Durch einen Zugang im Hals tröpfelte eine Flüssigkeit in ihren Körper. Ihre Haut war blass und grau.
Sie war wach. Ich strich über ihren Arm. „Mum, ich wünsche mir, dass Du gesund wirst. Wir haben noch was vor.“ Sie schaute durch mich hindurch. „Hättest mich einfach sterben lassen sollen.“ Ich spürte einen Stich. Ich spürte Trotz. „Mum, ich werde Dich immer retten.“
Wir treten an ihr Bett in diesem hellen Intensiv-Zimmer, und ich denke ‚Sie sieht aus wie Opa.‘ Meine Cousine spricht es aus. Mums Hände sind ganz glatt, die Haut spannt über ihrem geschwollenen Gewebe. Und dann denke ich: ,Sie ist nicht mehr da.‘ Ich weiß, dass meine Cousine das Gleiche denkt.
Ich schaue auf den Geräteturm neben ihrem Bett. Ein netter Intensivpfleger kommt zu uns. Er erzählt, was er erzählen kann. Ich zeige auf die Pumpe mit dem Noradrenalin. „Ist das eine hohe Dosierung?“ Er nickt. „Eine sehr hohe. Aber Details müssten Sie bitte mit dem Arzt besprechen.“
Während ich ihre Hand halte verschwimmt die Zeit. Mal ist meine Cousine da. Mal ist Mums Freundin da. Mal bin ich weg. Mal erklärt mir der junge Arzt, der sie wiederbelebt hat, was passiert ist. Und dass man jetzt nur abwarten könne. Ich höre ihm zu. Ich kann nicht sprechen. Ich hoffe, dass er keinen Zuspruch erwartet.
Nach meiner langen Fahrt zuhause angekommen rief ich im Krankenhaus an. Keine Veränderung. Sie schlief. Den Abend verbrachte ich mit Googlen. Sozialer Dienst, psychosoziale Beratung, Hilfe für depressive Menschen, Pflegestufen, Therapiemöglichkeiten, Betreuung. Ich fand alles und nichts. Es fühlte sich alles nicht passend an. Sie war 71. Sie war ein aktiver selbstbestimmter selbstständiger Mensch gewesen. Dann starb ihr Partner, dann ihre Schwester. Dann kam Corona. Beim letzten Versuch eine Unterstützung für sie zuhause zu bekommen bescheinigte ihr der medizinische Dienst, dass sie topfit sei. Er bescheinigte es telefonisch, wegen Corona.
Am nächsten Morgen rief ich wieder auf der Intensivstation an. Zu meiner Überraschung gaben sie mir die Nummer der Station, auf die sie bereits verlegt wurde. Verblüfft wählte ich die Nummer. Es klingelte lange, bis eine Frau abhob und mir knapp sagte: „Warten Sie bitte einen Moment!“ Dann hörte ich eine wütende Stimme im Hintergrund. Wortreich und böse giftete eine Frau die Stationsschwester an. Es ging um einen vollen Katheder und mangelnde Aufmerksamkeit. Die Schwester erklärte mit freundlichem Nachdruck, dass sie gleich käme. Als sie sich mir wieder zuwendete, sagte ich: „Geben Sie der Frau den Telefonhörer, mit der Sie gerade gesprochen haben. Das ist meine Mutter.“
Manchmal summe ich, manchmal rede ich leise mit ihr. Manchmal betrachte ich die Geräte und google nach Werten und Medikamenten. Manchmal kommen die Pfleger und lagern sie um. Alle sind sehr nett und aufmerksam auf der Station. Mitfühlend und offen. Inzwischen ist es Sonntag. Ich warte auf den Oberarzt.
Während dieses Krankenhausaufenthaltes wechselte meine Mum noch zweimal die Station. Auf meine Bitte hin hatte ein Psychiater mit ihr gesprochen und sie bekam wieder ihre Medikamente, die sie abgesetzt hatte, weil sie wegen Corona nicht mehr vor die Tür ging. Eine Frau vom Sozialdienst des Krankenhauses hatte mit ihr gesprochen und gemeinsam mit ihr einen Plan erarbeitet, wie es nach dem Krankenhausaufenthalt weitergehen konnte. Meine Mum hatte mitgespielt. Doch als sie wieder zuhause war und ich sie darauf ansprach, wollte sie davon nichts mehr wissen. „Ich komme zurecht.“
Ich rief die Frau vom sozialen Dienst an: „Was kann ich denn tun, damit sie die Hilfe bekommt, die sie benötigt? Damit das nicht nochmal passiert?“
Sie sagte: „Ihre Mutter ist voll geschäftsfähig. Sie können gar nichts tun. Sie muss es selbst tun wollen.“ Ich verstand es nicht. Alles was sie tat oder besser nicht tat, war doch eine Selbstgefährdung. „Was ist, wenn sie es nicht will?“ „Dann ist es so.“ sagte die Frau.
Der Oberarzt kommt in Begleitung des jungen Arztes, der meine Mum wiederbelebt hatte. Er ist freundlich, geduldig, offen und ehrlich. Er beantwortet alle meine Fragen. An die Wand gelehnt streut der junge Kollege ab und an ergänzende Informationen ein. Er redet mehr mit dem Oberarzt, als mit mir. Der Oberarzt erläutert mir die Prognosen: Die sehen schlecht aus. Es ist ungewiss, ob sie je wieder aufwachen wird. Es ist noch ungewisser, dass sie jemals wieder gesund auf die Beine kommt.
Wir schweigen. Dann schaue ich den Oberarzt an. Ich höre mich sagen: „Sie hat schon lange keinen Lebenswillen mehr. Sie wird nicht kämpfen.“
Ich habe ihre Hand gehalten.
Hi Mum. Es ist schön, dass Du jetzt da bist. Happy Birthday.
Epilog
Meine Mum ist jetzt hier. Im September ’23 kam ihr Baum aus den Niederlanden hierher in unseren Garten. Es ist ein Echter Rotdorn. Er steht vor unserem Fenster und es sind die Triebe der ersten Blüten daran zu erkennen, die im April oder Mai rosa blühen werden.