Ich nenne sie Stella. Als wir uns begegneten, waren wir vermutlich beide verunsichert. Ich viel mehr als sie. Sie war eine Frau, die eine Vergangenheit hatte mit dem Mann, mit dem ich eine Zukunft wollte. Während ich meine Unsicherheit mit überdrehtem Plappern erfolglos zu überspielen versuchte, empfing sie mich offen und freundlich. Dennoch fühlte ich eine Distanz, die wir nie überwunden haben.
Gefühlt ewig waren wir mein Freund und ich durch einen Wald gefahren, um das alte Feldsteinhaus an einem Bach am Waldesrand zu erreichen. Ich wusste nicht, was wir hier wollten, wer oder was mich hier erwartete. Wir waren erst einige Wochen zusammen. Wir waren sehr verliebt. Wir wussten es vielleicht noch nicht sicher, aber wir fühlten bereits, dass wir ein Stück Leben miteinander verbringen wollten. Und nun brachte er mich hierher.
Es war ein so wildromantischer Platz. Ein kleiner Bach gluckste über das grüne, von alten Bäumen beschattete Grundstück. Das alte Haus strahlte Gemütlichkeit, Geschmack und Stil aus. Stella und der Mann an Ihrer Seite begrüßten uns herzlich und führten uns an eine Tafel, wie sie direkt aus einer Kräuterfrischkäse-Werbung der 90er als Kulisse hätte dienen können. Ein perfekter Sehnsuchtsort.
Und wie so oft in meinem Leben fühlte ich mich falsch. Ich fühlte mich klein, unwissend und unsicher. Und diese beiden weiß gekleideten Menschen in diesem romantischen wildschönen Garten an diesem wunderschönen alten Haus wirkten auf mich so weltgewandt, so über den Dingen schwebend und souverän, dass sie mir einfach einen Heidenrespekt einjagten.
Sie war auch viele Jahre nach der Trennung noch Seelenmensch des Mannes an meiner Seite, der Vater meiner Kinder wurde. Vertraute, Wissensbewahrerin, Beraterin. Sie konnte nichts dafür, dass sie mich manchmal an meine Mutter erinnerte. Und dass mit ihren sicher gutgemeinten Ratschlägen immer auch einen Hauch von strenger Missbilligung mitschwang. Ganz sicher war das mehr meine Wahrnehmung als ihre Intention.
Wir wurden niemals Freundinnen. Wir haben es versucht. Sie gab mir Jobs in ihrer Agentur, sie nahm mich mit zum Tai Chi, sie lud uns zu einem Kurztrip nach England ein, und ich versuchte, von ihr zu lernen und zu lernen, mich nicht mehr neben dieser kleinen zierlichen Frau mit den feuerroten Haaren klein zu fühlen. Es gelang mir nicht. Es gab viele Gründe dafür. Altersunterschied, Bildung, Lebensentwürfe, Erfolgsdefinition, Augenhöhe, Themen. Letztlich wohl einfach die Chemie. Wir fühlten uns nicht.
Als wir fort zogen brach der bemühte Kontakt zwischen uns beiden ab. Wir waren beide erleichtert. Ich wurde erwachsen. Sie blieben in Kontakt. Manchmal erzählte er etwas. Ich lernte, dass auch sie manchmal struggelte. Und ihr Leben nicht immer so wildromantisch und erfolgreich war, wie es sich in meinen Kopf zementiert hatte. Dennoch blieb sie mein Rolemodel wider Willen. Jemand, vor dem ich Respekt hatte und den ich bewunderte, zumindest vor dem Bild, das ich mir gemacht hatte. Zugegeben hätte ich das nicht.
Nun ist sie tot. Es war ein Unfall. In ihrem wunderschönen Zuhause. Es ist unbegreiflich. Seit dieser Nachricht erlebe ich mich immer wieder dabei, wie ich innehalte und an sie denke. Wie ich weine. Wie ich die Luft anhalte. Wie mein Herz aussetzt. Wie ich schreien möchte. Wie ich „Das ist doch nicht fair.“ denke. Ich höre Glas splittern.
Lasst uns das Leben leben. Lasst es uns nicht übermäßig zerdenken. Nicht unnötig schwer machen. Lasst uns unseren eigenen Weg machen. Lasst uns im Guten begegnen. Neugierig aufeinander bleiben. Lasst uns ein paar Punkte von der Bucket List streichen, die vielleicht gar nicht unsere sind. Lasst uns jene erleben, die in unseren Herzen entstehen. Lasst uns Leben. Wir können es so schnell verlieren.