Du bist gar nicht wichtig!

Menschen & Me

Ich möchte diese Worte zum Trost sagen. Ich möchte sie der Person zuflüstern, deren panische Worte „Was, wenn mich alle hassen?“ jüngst in meine Timeline tropften wie Öl auf eine verkrustete Wunde. Doch wie könnten solche Worte trösten?

Ein Nachrichtesprecher der späten 70er Jahre schaut missbilligend aus einem Vontage-Röhrenfernseher, der in einem Retro-Wohnzimmer steht. KI-generiert.

Mich befreiten sie einst. All die Jahre zuvor lebte ich damit, auf ungute Weise ganz ganz besonders zu sein. Es konnte gar nicht anders sein. Denn ich wusste, dass alle mich beobachteten. Ja, alle. Ständig. Bereits seit meiner Geburt taten sie das. Wannimmer ich etwas tat oder sagte, was sich nicht gehörte, machten „sie“ sich ihre Gedanken. Selbst die Nachrichtensprecher starrten missbilligend aus dem Fernseher, wenn ich meinem Opa widersprochen hatte. Oder etwas angezogen hatte, was meiner Mum mißfiel. Oder wenn ich ein paar Minuten zu spät nach Hause gekommen war.

Ich konnte ihren Blicken nicht entkommen. Sie dachten ununterbrochen über mich nach. Sie beurteilten mein Aussehen. Sie beurteilten mein Benehmen. Sie beurteilten meine Schulleistungen. Andauernd. Selbst wenn niemand im Raum war, wurde ich ganz sicher beobachtet und beurteilt. Jederzeit. Von ihnen.

Eine Gruppe Schulkinder starrt missbilligend und wortlos Richtung Betrachter. KI-generiert

Wer „sie“ waren? Na, alle. Die Nachbarn vor allen anderen, dann die Lehrerinnen und Lehrer, die nächsten Verwandten, die weiteren Verwandten, Busfahrer, Friseure, Marktverkäuferinnen, die Gastgeber:innen im Urlaub, der Pastor, die Schützen, die Eltern der anderen Kinder in der Schule. Alle beobachteten mich doch ununterbrochen. Ich war zutiefst überzeugt davon. Schließlich wurde ich von meiner Mum und meiner Oma ständig darauf hingewiesen: „Benimm Dich, was sollen sonst die [hier beliebige Personen einfügen] von Dir denken?“

Einmal mussten meine Mum und ich die wunderschöne prachtvolle glitzernde Königsallee in Düsseldorf überqueren, und sie schleifte mich buchstäblich an ihrer Hand hinter sich her. Mit gesenktem Kopf und schnellen Schrittes trabte sie voran, während ich am langen Arm hinter ihr herstolperte. Als ich sie bat nicht so schnell zu laufen, zischte sie mich an: „Nun beeil Dich, alle sehen doch, dass wir hier nicht hin gehören!“

Ich sah mich um. Aber niemand schaute in unsere Richtung. Wahrscheinlich guckten sie heimlich, aus den Augenwinkeln – und beurteilten uns.

Eine junge Frau mit Pelz und teurem Schmuck neben dem Schaufenster eines Juweliers schaut so gerade am Betrachter vorbei. KI-generiert

Da ich andauernd beobachtet wurde, versuchte ich, nicht allzu viel Grund für Missbilligung zu liefern. Ich meine, ich war wohl troztzdem nur durchschnittlich lieb, und natürlich hatte ich auch eine rebellische Phase. Zum Beispiel wollte ich meinen Beobachtern mal ein Schnippchen schlagen und etwas ganz und gar Ungeheuerliches tun, was sie ganz sicher nicht entdecken würden:

Ich ließ auf dem Schulweg zu meiner Grundschule im Spielwarenladen eine rote Plastikmundharmonika im Wert von 50 Pfennig mitgehen!!

Selbstverständlich war ich wochenlang überzeugt davon, dass mich irgendjemand dabei beobachtet hatte. Täglich auf dem Schulweg rechnete ich damit, dass diese Person aus dem Laden stürmen und mit dem Finger auf mich zeigen würde! „Ich hab es gesehen!“ ausrufen und eine Menschenmenge zusammentrommeln würde, aus der mich alle missbilligend anstarren würden!
Natürlich passierte nichts dergleichen.

Ein junges Mädchen mit Zöpfen und Brille wird umrundet von anderen Kindern und älteren Erwachsenen und wird missbilligend angeguckt. KI-generiertes Bild.

Ich erzählte meinem Freund Heiner davon. Und er kugelte sich vor Lachen. „Das erzählen die Erwachsenen doch nur! Niemand beobachtet Dich!“ Heiner war schon groß, ein ganzes Jahr älter als ich. Und ein ziemlicher Rotzlöffel. Ich hatte es irgendwie geahnt, ohne mir konkret Gedanken darüber gemacht zu haben. Aber als mein bester Freund das so aussprach, einfach so, da war ich doch schockiert. Konnte das wirklich sein? Mein ganzes Leben hatte man mir doch gesagt, dass mich alle beobachten würden. Und das sollte wirklich nicht stimmen?

„Ey, die haben alle mit sich selbst genug zu tun! Die haben keine Zeit, Dich zu beobachten. Oder mich. Warum auch. Die interessieren sich überhaupt nicht für uns. Wir sind ja nicht berühmt.“

Ich war wie vom Donner gerührt. Konnte das wirklich sein? Ich grübelte lange daran rum. Aber wenn ich mal ganz scharf nachdachte, dann lagen die Indizien auf der Hand. Ich beobachtete nun endlich selbst mein Umfeld. Manchmal starrte ich Menschen ganz bewusst an. Aber die merkten es überhaupt nicht.

Wenn meine Mum nicht da war, zog ich Sachen an, die ich so sonst nicht anziehen durfte, und ging damit raus. Keine:r guckte!

Am nächsten Wochenende erzählte ich wieder Heiner aufgeregt davon. Ich war ganz beseelt. Ich erzählte ihm, dass ich nun glaube würden, dass er Recht hat. Wir heckten ein paar Sachen aus, nur um das zu testen. Und tatsächlich: Keiner beachtete uns, keiner verpetzte uns bei unseren Eltern. Wir waren frei! Ich war frei!

Naja, fast. Meine Mum tadelte mich natürlich immer noch – wegen nix. Und meine Oma väterlicherseits starrte mich tatsächlich bei jedem Besuch so missbilligend an, dass ich noch lange überzeugt davon war, dass sie doch ein paar Spione auf mich angesetzt haben musste. Aber das ist nochmal eine ganz andere Geschichte.

Ich realisierte immer mehr, dass es sich unbeachtet besser lebt und wurde ein ganz normales aufsässiges Pubertier. Und heute, mit über 50, ist es mir schon sehr lange egal, was andere überhaupt von mir denken könnten, wenn sie es denn würden.

Alte frau mit grauer Dauerwelle schaut missbilligend zum Betrachter

Allerdings, als ich letztes Jahr in meinem Heimatort war, da bin ich nochmal in diesen Spielwarenladen gegangen. Ich habe 50 Cent auf die Ladentheke gelegt, heimlich. Und ich bin schnell wieder gegangen…

Erwachsene Frau in bunter Klamotte tanzt, als würde niemand zusehen.

Dance like nobody is watching..

2 Gedanken zu „Du bist gar nicht wichtig!“

  1. Wie ähnlich dein Leben dem meinem war, damals in dieser Zeit als wir Kinder waren.
    Meine Mum war auch gnadenlos.
    Ich wurde oft gemieden als man wusste wo ich wohnte..
    diese sich beobachtet fühlen kannte ich auch.
    Man möchte gesehen werden, aber nicht beobachtet.
    Bis man bemerkt nichts davon geschieht..

    Antworten

Schreibe einen Kommentar