Archiv 2012: Lieber Qualitätsjournalismus

Medien

Was würden wir nur ohne Dich tun? Von je her verlassen sich die Menschen auf Deine Expertise. Deine Vertreter tragen mit ihrer Aufklärungsarbeit, ihrer verständlichen Aufbereitung komplexer Sachverhalte und ihrer investigativen Recherche zur Findung unserer Wahrheit und unserer Meinungsbildung bei. Du hilfst uns, Dinge zu verstehen. Du hilfst uns, Informationen einordnen zu können. Du holst uns ab und nimmst uns mit in Welten, die sich uns sonst nicht so einfach erschließen würden. Und zeigst uns erstaunliche und manchmal auch erschreckende Zusammenhänge, wo wir keine vermuten würden. Du hilfst uns, den Überblick zu behalten. Und in Ländern, in denen Pressefreiheit herrscht, wie zum Beispiel in Deutschland, giltst Du zurecht als vierte Macht im Staat.

Sicher, es war immer schon so, dass Deine Vertreter sich politisch nicht immer völlig neutral verhalten haben, sich gern auch mal mehr in die Unterhaltung verirrt haben, statt sich an sachliche Fakten zu halten, und das Wörtchen “unabhängig” auf den Titelseiten Deiner Medien Augenwischerei war. Dennoch: Durch Deine große Vielfalt haben die Menschen doch auch immer schon die Chance gehabt, sich ihr eigenes Bild zu machen. Und so haben jede Deiner sachlichen und auch jede Deiner bunten Darstellungsformen ihren Platz.

Leider haben Deine Vertreter sich in den letzten Jahren etwas verlaufen. Auf Wikipedia heißt es unter der Überschrift Geschichte des Journalismus: “Der Journalismus hat sich im Laufe seiner mehr als 2000 Jahre währenden Geschichte jeweils der neuesten Technologien bedient.”

Spielzeug statt Werkzeug: Als der stern online ging, wurde das Medium Internet nicht ernst genommen. Die Print-Redaktion distanzierte sich von dieser nerdigen Spielerei – aus Angst vor Imageschädigung. Bis heute sind stern Magazin, stern.de und stern.tv völlig von einander unabhängige Redaktionen, zwischen denen so gut wie keine Kommunikation, geschweige denn eine direkte Zusammenarbeit stattfindet.

In den letzten 15 Jahren ist dieser Aspekt leider von jenen, die sich “Qualitätsjournalismus” auf ihre Fahnen geschrieben haben, sehr vernachlässigt worden. Die neusten Technologien sind von Deinen traditionellen Blattmachern nicht als Werkzeug und Chance, sondern als Spielzeug und Bedrohung angesehen worden. Und die Menschen, die sich aus Faszination an der Innovation, aus der Freude über die Möglichkeit der schnellstmöglichen Information und auch aus Bequemlichkeit diesen neuen Technologien zugewandt haben, die wurden von Deinen Vertretern vernachlässigt. Ja, sie haben sie sogar verachtet und beschimpft, dichteten ihnen kriminelle Energien und Geiz an, weil die neuen Technologien jedem ermöglichten zu allen Medien und Formaten Zugang zu erhalten, ohne direkt etwas dafür bezahlen zu müssen.

Statt diese Menschen weiter zu begleiten, sich mit ihnen zu entwickeln, ihre Bedürfnisse zu verstehen und dabei weiter Deine großen Aufgaben, die Wahrheitsfindung und die Aufklärung zu verfolgen, haben Deine Vertreter tiefe Gräben um ihre Elfenbeintürme gegraben und sich mit Drohgebärden über jene erhoben, die sich nun selbst an Wahrheitsfindung und Aufklärung, aber auch an Unterhaltung und Austausch beteiligten: Blogger, Künstler, normale Menschen, die eine Meinung haben, sie äußern, Fragen stellen, die bisher unbeantwortet blieben.

Zwar schickten Deine Vertreter Abgesandte in diese Welt, um zumindest irgendwie auch dabei sein zu können und diese bedrohliche User-Spezies, die am Frontalunterricht vergangener Zeiten nicht mehr interessiert ist, beobachten zu können. Doch zu keinem Zeitpunkt gaben sie ihren Abgesandten genug Spiel- und Freiraum, um sich wirklich in diese neue Welt einfügen und mit ihr interagieren zu können. Zu keinem Zeitpunkt waren sie bisher bereit, sich wirklich einzulassen.

Einzulassen auf Augenhöhe mit den Menschen,
denen sie dienen sollten.

Lieber Qualitätsjournalismus, ich wünsche mir sehr das Gefühl von Beständigkeit und Zuverlässigkeit zurück, das Du mir vor zwanzig Jahren vermittelt hast. Ich wünsche mir, dass Deine Vertreter ihre Aufgabe wieder wahrnehmen: Für Übersicht, Wahrheit und Aufklärung zu sorgen, denn an dieser Aufgabe hat sich nichts verändert. Sie stellt sich heute nur anders dar.

  • Ich wünsche mir Nachrichten für alle, die tatsächlich niemals einzeln bezahlt werden müssen, denn der freie Zugang zu allen Nachrichten sollte ein Menschenrecht sein.
  • Ich wünsche mir Tiefe hinter den Nachrichten, die für mich relevant sind: Ich möchte wissen, was sie für mich persönlich, meinen Arbeitsplatz, meine Familie, mein Land, meine Umwelt bedeuten. Und dafür würde ich auch gern etwas bezahlen.
  • Ich wünsche mir Experten, denen ich meine Fragen stellen kann, die offen geblieben sind. Experten, die sowohl die Ausbildung, als auch die Kontakte und die Möglichkeiten haben, meine Fragen beantworten zu können – oder sie an jene weitergeben zu können, die diesen Fragen gerne ausweichen, wie Menschen in der Politik oder der Industrie, denen ich diese Fragen nicht selber stellen kann.
  • Ich wünsche mir, dass Deine Vertreter der Gier widerstehen, die ersten und schnellsten sein zu wollen, und sich an Bildern und Geschichten im Internet bedienen, die in keiner Weise verifiziert sind. Das machen wir schon selber, die Facebooker, Blogger und Twitterer – nichts ist so schnell, wie ein dramatisch verpacktes Gerücht. Von Deinen Vertretern erwarte ich aber sachliche Aufklärung und harte Fakten. An wem sollte ich mich auch sonst orientieren?
  • Ich wünsche mir, dass Deine Vertreter Medienkompetenz vermitteln und mir anhand von Fakes und Hoaxes erklären, worauf ich bei Gerüchten achten sollte, Quellen, Ungereimtheiten, Lichtführung und sowas. Und natürlich setze ich voraus, dass Deine Vertreter diese Fähigkeit des Erkennens besitzen und sich nicht selbst an der Nase herum führen lassen.
  • Und ich wünsche mir eine zeitgemäße Form der Finanzierung Deines hohen Gutes, die unkompliziert, transparent und unabhängig sein sollte.

Denn ich bin wirklich sehr bereit, etwas für Dich zu bezahlen, wenn Deine Vertreter mir meine Wünsche erfüllen und ich mich wirklich wieder auf Dich verlassen kann. Denn diese große Informationsflut, das ständige Aufnehmen, Abwägen, Bewerten, Bezweifeln von Informationen ist sehr anstrengend und kostet mich jeden Tag viel Zeit und Energie. Da bezahle ich gerne Menschen, die das verlässlich für mich übernehmen, und denen ich vertrauen kann.

Und für Dich wünsche ich mir außerdem, lieber Qualitätsjournalismus, dass Deine Online-Vertreter endlich frei und vorbehaltlos ihrer jeweils eigenen Profession nachgehen und sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können. Denn es gibt keinen Journalisten, der gleichzeitig alle Medienformen wie Text, Bild und Video abdecken kann, der zudem eigenständig layouten und produzieren kann, und das am besten gleich von unterwegs – und dabei noch Tiefe und Qualität abliefern kann. Teamwork ist angesagt, und jeder sollte das tun, was er am besten kann. Und auch das Thema Monetarisierung sollte nicht den Journalisten aufgebürdet werden, denn es ist einfach nicht ihr Job.

Zum Schluss habe ich noch eine Frage an Dich: Macht Dir das Zeitungssterben wirklich etwas aus? Oder ist es Dir nicht eigentlich egal, auf welchem Kanal Du publiziert wirst? Denn es geht doch eigentlich um Dich und die Menschen. Und nicht um das Material, auf dem du verbreitet wirst, oder?

Herzlichst und in Hoffnung auf eine weiterhin freie und aufgeklärte Zukunft,

Deine Leserin.

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1 Gedanke zu „Archiv 2012: Lieber Qualitätsjournalismus“

  1. Diesen Kommentar habe ich damals unter Dirk von Gehlens Artikel hinterlassen:
    21. November 2012 um 16:13 Uhr

    Irgendwann, als ich angefangen habe, das Internet zu verstehen, habe ich gedacht: Wow, was für eine geile Erfindung ist das bitte für den Journalismus! Ich selbst werde dort sehr bald intensiv recherchieren und weltweit kontaktieren können. Die Redaktionen werden nicht mehr auf Deadlines angewiesen sein. Niemand wird mehr sagen müssen: „Nichts ist so alt wie die Zeitung von heute.“ Und die Wochenzeitungen und Magazine werden ihre Geschichten dann publizieren können, wenn sie fertig sind. Und vor allem: Aktualisieren.
    Das war vor etwa 17 Jahren. Und heute?

    Dienstags liegt der stern in den Redaktionen, der am Donnerstag am Kiosk verkauft wird. In Notfällen kann bis zum Mittwoch noch was im Heft geändert werden, aber hey – aktuell kann er niemals sein. Die Geschichte online weiter drehen oder im eMagazine aktualisieren? Pustekuchen.
    Die Strukturen sind so starr, dass sie jetzt nur noch brechen können. Vor uns liegen interessante Zeiten. Und damit die Chance auf die Rückbesinnung, was Qualitätsjournalismus eigentlich sein sollte.

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