Samstags gab es eigentlich nur einen Bereitschaftsdienst in der Redaktion, der bei aktuellen Ereignissen der Sonntagszeitung zuarbeiten konnte. An diesem Samstag war es anders. Denn an diesem Samstag musste ich zusätzlich zum Bereitschaftsdienst anrücken. Und Björn assistieren.
Denn es gab eine Aktion im Blatt, die uns seit Wochen Fotos von Babies in die Redaktion spülte. Wir hatten aufgerufen: „Wir suchen das schönste Baby der Stadt!“ Den Stadtfotografen bescherten wir damit ein grandioses Geschäft, denn nun rannten hordenweise Mütter mit ihren Babies in die Studios und ließen die Knirpse von ihren zauberhaftesten Seiten ablichten.
Diese Fotos landeten, gemeinsam mit hunderten selbst gemachten Knipsbildern, SÄCKEweise in unserer Redaktion. Aus diesen Säcken fischten wir einmal am Tag ein paar hübsche Babies raus um sie zu drucken und die Aktion weiter anzuheizen. Ich glaube, vier Wochen lang ging das so. Babyfotos en masse. Eine Sommerlochaktion.
Zu keinem Zeitpunkt hatte irgendjemand eine Idee, wie genau das eigentlich mit dem Aussuchen der schönsten Babies funktionieren sollte. Es gab so eine vage Vorstellung einer Jury, für die wir redaktionell die Vorauswahl treffen sollten, aber es zeichnete sich bald ab, dass die Idee nicht zuende gedacht war.
Am Ende luden wir 100 grob handverlesene Babies auf den Marktplatz für ein gemeinsames Fotoshooting ein. Bei der Auswahl spielte natürlich mehr die Fotoqualität als irgendeine Schönheit der Babies eine Rolle. Aber auch die war eigentlich egal, denn die Auswahl wurde dann tatsächlich ganz anders getroffen.
Nämlich von Björn.
Die Babies mit den schönsten Müttern der Stadt
Nach einem Mütter-Babies-Marktplatz-Gruppenfoto, für das ich auf einer alten wackeligen Leiter balancieren musste, zog Björn durch die Menge und pickte sich offenkundig die seiner Meinung nach 15 hübschesten MÜTTER raus. Und lud sie in unsere Redaktion ein. Mit Babies und Buggies, versteht sich.
Während ich versuchte mit Leiter und Kamera heil aus der zurück bleibenden enttäuschten Mutterhorde heraus zu kommen, stolzierte Björn laut lachend und flirtend mit den Auserwählten Richtung Redaktion. Die Sache hatte nur einen Haken: Zu unserer Redaktion im zweiten Stock kam man entweder über die Treppe. Oder mit einem Paternoster. Nicht unbedingt praktikabel für Babies und Buggies.
Doch Björn öffnete kurzerhand den sehr alten maroden Lastenaufzug, der meines Wissens ewig nicht in Gebrauch gewesen war, und schob immer fünf Mamas mit Babies und Buggies hinein, um sie nach oben zu bringen. Ich nahm lieber den Paternoster und verschwand oben in der Dunkelkammer, um die Gruppenfotos zu entwickeln.
Abwärts, und dann nur noch aufwärts
Als ich fertig war, war die „Kürung“ des „Schönsten Babies der Stadt“ im vollen Gange. Ich weiß nicht, wie genau das ablief, denn Björn schob mir gleich wieder fünf etwas eingeschnappte Mütter entgegen und gab mir die Anweisung, sie mit ihren Babies und Buggies wieder mit dem Aufzug runter zu bringen.
Vorsichtig betrat ich den alten Lastenaufzug, dessen hölzerner Boden deutliche Spalten zwischen den Bohlen zeigte. Die fünf Damen folgten mit Babies und Buggies, und der Lastenaufzug, der vermutlich irgendwann 1928 für 15 Personen ausgelegt worden war, ächzte unter dem Gewicht.
Ich hatte ein ganz mieses Gefühl.
Ich schloss die neuen äußeren Sicherheitsstahltüren, die irgendwann im Laufe des letzten Jahres angebracht worden waren, und die vermutlich eher die Leute draußen vor dem Aufzug schützen sollten. Dann zog ich die inneren Gittertüren zu. Das sah ungefähr so aus, der Aufzug war nur größer. Ich drückte auf den Knopf für Erdgeschoss, und dann setzte sich das uralte Gerät krachend und ächzend in Bewegung.
Wir kamen heil unten an, ich öffnete erleichtert die Türen und die Damen verschwanden grußlos. Mit Babies und Buggies. Ich schloss den Aufzug wieder und drückte die 2.
Der Fahrkorb setzte sich in Bewegung und erreichte den ersten Stock. Dann den zweiten. Und den dritten. Und dann den vierten. Und dann den viereinhalbsten. Und mit einem lauten Scheppern und einem heftigen Stoß blieb der Fahrstuhl stehen. Ein grelles Quietschen, wie ein schriller Schrei folgte. Dann wurde es ruhig.
Holt mich hier raus!
Ich holte nach Luft. Einen Moment lang hatte ich Angst, dass dieser plötzlichen Ruhe ein lauter Knall und ein schneller Fall folgen würde. Ich hatte einfach schon zuviele schlechte Filme mit herabstürzenden Aufzügen gesehen. Aber es passierte einfach gar nichts mehr.
Ich drückte erneut die 2. Keine Reaktion. Ich drückte alle anderen Knöpfe. Nichts. Es gab einen roten Knopf, den ich lange drückte. Aber weder hörte ich was, noch passierte irgendwas. Das im Aufzug hängende Telefon auszuprobieren, erschein mir so sinnlos, dass ich es nicht mal probierte.
Dazu muss man wissen: Kurz nach der Wende gab es kaum funktionierende Telefone in der Stadt. In unserer Redaktion arbeiteten wir mit 30 Leuten und drei (!) Telefonleitungen. Wir hatten regelrechte Wartelisten, wer als nächstes raus telefonieren durfte. Logisch also, dass in einem uralten Lastenaufzug mit einem offenkundig uralten Telefon kein Kontakt nach draußen zu erwarten war. Ich versuchte es mit Rufen.
Dann versuchte ich es mit Schreien. Irgendwann glaubte ich Stimmen im Treppenhaus zu hören und ich schrie um Hilfe und trat gegen das Gitter. Das ließ sich öffnen, und ich stemmte mich gegen die äußere Stahltür, trat und schrie wieder. Natürlich nützte das rein gar nichts. Die Stahltür war gesichert, weil der Fahrkorb über den Ausstieg hinaus gefahren war. Ich kam aus der Nummer einfach nicht raus.
Wieso kannst Du telefonieren?
Nach ein paar Minuten, in denen ich nur angestrengt lauschte und genauso angestrengt nachdachte, nahm ich doch etwas verzweifelt den Telefonhörer auf. Wer weiß, vielleicht gab es ja doch am anderen Ende einen Hausmeister oder einen Notdienst oder so.
Doch ich traute meinen Ohren kaum: Aus dem Hörer tönte ein Freizeichen! Ich wählte die Nummer der Redaktion und konnte mein Glück kaum fassen: Es handelte sich tatsächlich um ein richtiges Telefon mit freier Leitung zum Nach-Draußen-Telefonieren. Es klingelte. In der Fotobude. Irgendwann ging Björn dran.
„Hallo Björn, hier ist Sandra, ich….“
„WO BIST DU DUMME KUH!!!???“
„Ich bin im vierten Stock im Aufzug und der Aufzug ist stecken geblieben. Hol mich hier raus!“
„WILLST DU MICH VERARSCHEN??? WO bist Du?? Du kannst Dich doch nicht einfach verpissen, wenn wir hier mitten in einer Aktion sind!!!“
„Björn…“ Ich seufzte. „Komm einfach in den vierten Stock. Bitte!“
„WENN DU IN EINEM AUFZUG FESTSTECKST, WIESO KANNST DU DANN TELEFONIEREN??? FINDEST DU DAS LUSTIG? BLÖDE KUH, DU….!!!“
Ich schrie zurück: „Weil hier ein VERDAMMTES TELEFON drin hängt!!!!“
„JA, IS KLAR!!“ Björn hängte auf. Ich war den Tränen nah.
Doch nach ein paar Minuten stand Björn tatsächlich vor der Aufzugtür. Und versuchte sie von außen zu öffnen. „WO BIST DU??? WIESO GEHT DIE TÜR NICHT AUF???“
„Ich bin hier drin, und der Aufzug ist zu hoch gefahren!“
Björn: „Und WARUM bist Du so hoch gefahren…??!! Und wieso kannst Du überhaupt telefonieren???“
Ooooorrrr….
Ich versuchte Björn nochmal zu erklären, dass der Aufzug einfach von selbst weiter gefahren ist, und dass er zu hoch gefahren ist, nicht mehr reagiert und ich eigentlich nur noch raus möchte. Björn trat gegen die Tür, dann sagte er: „Ich kümmer mich jetzt erst mal um die Mütter, damit die heil unten ankommen. Du musstest ja unbedingt mit dem Aufzug stecken bleiben…!!!!“
„JA, aber vergiss mich hier nicht…!“
Aber da war er schon weg.
Warten auf Björn
Im Treppenhaus hörte ich unten in einer gefühlten Ferne Mütterlachen, Babyschreien und Björns Stimme. Manchmal polterte es und ich hoffte, dass er nicht den Paternoster zum Buggy-Transport nutzte. Gefühlte zehn Mütter mit Babies und Buggies später hörte ich nichts mehr. Es muss inzwischen so fünf Uhr nachmittags gewesen sein. Ich hatte mindestens eine Stunde in diesem verdammte Aufzug gesessen. Draußen hatten wir fast 30 Grad und auch wenn es im Aufzug nicht ganz so heiß war, so war es in diesem Schacht doch extrem stickig.
Ich wählte wieder die Nummer der Redaktion. Niemand ging dran.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich tatsächlich noch eine leise Hoffnung, dass Björn unterwegs war um Werkzeug oder Hilfe zu holen. Was für ein Irrtum.
Nach einer weiteren Viertelstunde wählte ich meine eigene Festnetznummer vom Telefon in meinem Appartement, in dem mein Freund nach einer Party immer noch im Bett chillte und ziemlich angeschlagen klang. „Hey, kannst Du in die Redaktion kommen?“ fragte ich.
„Jeeetzt?! Warum? Ist was passiert?“
„Ich sitze im Lastenaufzug im vierten Stock fest. Und ich glaube, Björn lässt mich hier hängen…“
„…“
„Rolf? Bist Du noch dran?“ fragte ich. Die Antwort ließ auf sich warten, und als sie endlich kam, klang sie wenig mutmachend: „Süße…“ erklang mein müder Held… „Tut mir echt leid, wie bist Du denn jetzt wieder raus gekommen…?“ „GAR NICHT! Beweg Dich aus dem Bett und komm her und hol mich hier raus!!“
„… Wieso… bist Du noch in dem Aufzug… ich kapier das nicht… wieso kannst Du telefonieren?“
„WEIL HIER EIN VERDAMMTES TELEFON DRIN HÄNGT!!!“
„… Ok …“
Ich gab’s auf. Ich wusste, die Nacht war hart und die Nachwirkungen entsprechend gewaltig. Ich legte auf.
Rettung nach Feierabend
Ich saß auf dem maroden Boden dieses uralten Fahrstuhls, aus dem heraus ich telefonieren konnte, was mir aber nichts nutzte, weil mir keiner, den ich anrufen konnte glaubte, dass ich noch im Fahrstuhl festsaß.
Gerade als ich doch den Versuch wagen wollte, die Feuerwehr zu alarmieren – was ich aus Angst vor anfallenden Kosten bisher verworfen hatte – hörte ich im Treppenhaus unter mir Geräusche. Ich wählte die Redaktionsnummer, und diesmal die Hauptnummer, nicht die der Fotobude.
Es klingelte und klingelte. Ich wusste, der Sonntagsdienst war entweder auf Terminen oder hatte bereits an diesem ereignislosen Tag Feierabend gemacht. Aber vielleicht…
„Guten Abend, Zeitungsredaktion!“
„Matthes????“ Ich heulte fast vor Aufregung! „Matthes, leg jetzt bitte nicht auf! Hier ist Sandra!“
„Sandra? Was ist denn los? Wo steckst Du? Björn sitzt in der Kneipe und spricht wüste Beschimpfungen auf Dich aus, weil Du einfach abgehauen bist!!“
„ER TUT WAS????“ Ich schäumte vor Wut. Doch ich riss mich zusammen und atmete tief durch. Und dann erläuterte ich meinem Kollegen so ruhig wie es mir möglich war, was genau passiert war. Und endlich kam eine vernünftige Frage: „Warte mal, Du sitzt im Aufzug und Björn weiß das? Und er hat Dich da sitzen gelassen??“
Ich atmete erleichtert auf. Endlich jemand, der mich ernst nahm. Und dann kam sie, die Frage: „Aber warum kannst Du telefonieren…?“
Matthes brauchte nur ein paar Minuten, dann stand er vor dem Aufzug. Wir besprachen, was ich alles schon probiert hatte, dann versprach er mir, mit Werkzeug zurück zu kommen. Zehn Minuten stand Matthes mit einem Dreikant-Schlüssel vor dem Aufzug und öffnete die obere Klappe. Die Sicherheitstüren schwangen auf, und ich konnte endlich in die Freiheit klettern.
Hold the line
In Folge sah man Matthes und andere Kollegen häufiger mal im Aufzug stehen, zum Telefonieren. Björn bekam vom Redaktionsleiter eine Ansage, die aber natürlich nichts brachte. Und ich fuhr wieder Paternoster…
Weiter mit Teil 4: Spring doch!
Kapitelübersicht
Teil 1: Intro – Geschichten mit Björn
Teil 2: Die andere Perspektive
Teil 3: Der Aufzug, oder: Warum kannst Du telefonieren?!
Teil 4: Spring doch!
Teil 5: So wird das gemacht! Bang! Bang!!
Teil 6: Der Abschuss
Teil 7: Der Abschluss
Teil 8: Nachklapp