Egal, was ich versuchte und anstellte, egal wie gern die Layouter meine Fotos einsetzten, egal wie oft die anderen Kollegen mich in meiner Arbeit bestätigten: Björn konnte ich es einfach nicht recht machen. Ein halbes Jahr nach unserer ersten Begegnung versuchte er immer noch mit allen Mitteln, mich los zu werden.
Und ich verstand immer noch nicht, was sein Problem war. So richtig konnte oder wollte mir das auch niemand erklären. Und in dieser verrückten Zeit, damals in den 1990ern, schien es auch niemanden so richtig zu verwundern. Björn genoss einfach Narrenfreiheit, er war mit seiner Art an Geschichten heranzugehen, mit seiner Hartnäckigkeit und seinem Biss, und durchaus auch mit seiner unverwüstlichen Dreistigkeit einfach der Prototyp des Fotoreporters, der bei diesem Verlag benötigt wurde.
Er war nicht der Einzige dieses Schlags, es gab viele cholerische und menschlich oft fragwürdige Zeitgenossen in den Redaktionen. Ich sollte auch noch einige kennenlernen. Nicht zuletzt dank Björn.
Da er mich auf andere Weise nicht los wurde, weil die Redaktionsleitung an mir festhielt, versuchte er eine andere Strategie: Er „verlieh“ mich an andere Lokalredaktionen in den Nachbarstädten, in denen es an Fotografen mangelte. Ich schrieb inzwischen auch selbst und brachte so komplette Geschichten ins Blatt, ohne dass ein weiterer Redakteur dafür abgezogen werden musste. Es waren die harmlosen „bunten“ Geschichten, von den zahmen Eichhörnchen im Park über Eröffnungen von Einkaufspassagen oder einfach das produzieren von „Schmuckis“, also zum Beispiel Wetter-Features mit netten Mädels beim Eisessen, die ich lieferte. Die üblichen „Kaninchenzüchtervereinsgeschichten“, wie man sie als junge Reporterin eben so macht.
Doch dann kam der Morgen, an dem Björn mir mitteilte, dass er mich für einige Tage an die Redaktion in der Nachbarstadt verleihen würde. Da sei ein Kollege ausgefallen, sie hätten zuwenige Fotografen. Zunächst dachte ich mir nichts dabei und ich packte meine Fototasche. Bevor ich mich auf den Weg machte, gab Björn mir noch mit: „Denen kannst Du nicht auf der Nase rumtanzen.“
Ich verließ die Redaktion mit einem unguten Gefühl.
Zwischen Pest und Cholera
In der Redaktion der mir unbekannten Nachbarstadt angekommen, begrüßte mich niemand wirklich. Meine Anwesenheit wurde zur Kenntnis genommen. Der allgemeine Umgang war sachlich distanziert. Ich kannte einen der Fotografen vom Sehen aus einer anderen Redaktion. Sonst niemanden.
Termine waren bereits vergeben, der Fotochef sagte nebenbei: „Für Dich haben wir nachher noch was.“ Dann hieß es warten. Ich erinnere mich an eine dunkle neonbeleuchtete Fotobude, wortkarge Kollegen, wenige Kolleginnen unter den Textern. Ich erinnere mich, dass ich ziemlich lange wartete und niemand einen Termin für mich hatte.
Im Großraumbüro sah ich irgendwann zwei Männer die Köpfe zusammenstecken, einer schaute zu mir rüber. Der andere nickte und verschwand in ein Einzelbüro. Der Mann kam auf mich zu, ging an mir vorbei und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, ihm in die Fotobude zu folgen.
Wir waren allein, als er mir sagte: „Ich habe einen Abschuss für Dich.“ Ich erstarrte. Ich hatte noch nie einen Abschuss machen müssen, und ich wollte auch keinen machen. Bisher hatte ich mich gut um diese Art Job herumdrücken können. Ein Abschuss, das erzählte ich schon im Intro, das ist ein Foto von einem Menschen wider dessen Willen. Oft sind es Promis im Privatleben. Ich sollte eine Frau fotografieren, die in der Vorwendzeit für eine staatliche Institution gearbeitet hatte, die nicht mit Menschenrechten konform agierte. Diese Frau arbeitete heute in einem gehobenen Amt. Und in eben diesem sollte ich sie „abschießen.“ Am Arbeitsplatz. Ich sagte: „Das mach ich nicht!!“
Damals wusste ich tatsächlich noch nichts Genaues über die rechtlichen Details. Natürlich kannte ich das Recht am eigenen Bild, aber darüber hinaus hatte ich mich bisher nie mit irgendwelchen Rechtsthemen auseinandersetzen müssen. Ich sagte einfach nein, weil es sich auch ohne tiefergehendes Rechtswissen einfach total falsch anfühlte.
Der Mann zog spöttisch eine Augenbraue hoch und machte mir die Ansage: „Du hast eigentlich nur die Wahl, den Job zu machen, oder nach Hause zu fahren. Dann brauchst Du aber auch nicht wiederzukommen. In keine Redaktion.“
Job in Trance
Während ich darüber schreibe drückt sich wieder das ungute Gefühl in die Magengegend, das mich damals lähmte. Ich hatte Angst. Ich brauchte den Job. In meiner Heimatstadt wartete niemand auf mich. In der Redaktion dort war die Fotobude voll belegt. Redaktionen anderer Blätter bezahlten Freien nur einen Bruchteil, von dem wirklich niemand leben konnte.
Aus heutiger Sicht werden viele nicht verstehen, warum mir dieser Job trotz all dieser widriger Umstände so wichtig war. Er war damals die größte Chance, die ich ergreifen konnte. Ich kam aus einem bildungsfernen Umfeld, hatte so gerade eben den Realschulabschluss geschafft und hatte auch nie etwas anderes angestrebt. Ich hatte meinen Kleinmädchentraum vom Zirkusleben sehr ernst gemeint. Als der geplatzt war, hatte ich nichts außer meiner Fotolaborantinnen-Ausbildung, und sowohl fachlich als auch finanziell gesehen war es schon damals ein großes Glück, überhaupt in einem Fachlabor wie in einer Redaktion arbeiten zu können. Die meisten anderen Laborant*innen waren in Schnell-Labors an der Entwicklungsmaschine gelandet und taten nichts außer Chemie-Behälter auszutauschen.
Als freie Fotoreporterin arbeiten zu können war für mich eine einmalige Chance.
Ich brauchte diesen Job auch, weil ich niemandem im Rücken hatte, der mich hätte auffangen können. Ich war 20 und musste mich selbst finanzieren, ich lebte ohne Netz und doppelten Boden. Arbeitslosengeld hätte ich nicht bekommen, ich arbeitete als Freelancer. Ich konnte meiner Mum nicht auf der Tasche liegen, sie hatte selbst kaum Geld. Von meinem Vater konnte ich nichts erwarten, der Kontakt war abgebrochen.
Ich wusste, dass mein Job dank Björn immer auf der Kippe stand, und ich wusste, dass mein Redaktionsleiter hier in dieser Redaktion nichts ausrichten konnte. Wie in Trance nahm ich den Auftrag an.
„Sag nicht…“
Ich notierte die Adresse der Behörde, den Namen der Frau, schulterte meine Fototasche, nahm mir einen Stadtplan aus dem Regal und wandte mich zum Gehen. Der kalte Stein in meinem Bauch war zu einem Felsen angeschwollen. „Moment…“ Ich war schon an der Tür, als ein anderer Mann mich nervös dort abfing. „Und wenn Du erwischt wirst: Sag auf keinen Fall, dass wir Dich beauftragt haben! Auf gar keinen Fall! Wir haben gerade ein gutes Verhältnis zum Amt aufgebaut. Das dürfen wir nicht gefährden.“
Ja, heute ist mir auch klar, dass nichts, aber auch gar nichts an diesem Auftrag irgendwie normal und rechtens war. Weder der Frau gegenüber – was immer sie sich auch vorher je zu Schulden hatte kommen lassen – noch mir gegenüber. Aber ich war jung und dumm, und auch wenn das keine Entschuldigung ist, so ist es doch wenigstens eine Erklärung dafür, dass ich tat, wie mir geheißen wurde.
Super-GAU
Ich mache es kurz: Es kam, wie es kommen musste. Ich rannte ins offene Messer. Ich ging in die Behörde, fand das Büro dieser Frau, klopfte an, öffnete die Tür, fragte die Frau nach ihrem Namen, ich macht zwei schnelle Fotos von Ihr und nahm die Beine in die Hand. Ich nahm den Aufzug, der Film in meiner Kamera spulte zurück, ich legte einen neuen ein und steckte den belichteten Film zwischen die neuen in meiner Fototasche. Die Aufzugtür ging auf. Der Sicherheitsdienst erwartete mich.
Wenige Minuten später fand ich mich im Büro dieser Frau wieder. Zwei Männer waren nun dabei, und niemand machte den Eindruck, besonders milde gestimmt zu sein. Meine Kameratasche stand auf dem Schreibtisch, einer der Männer hatte den Film aus meiner Kamera entfernt.
„Wer sind Sie?“ „Warum haben Sie fotografiert?“ „Auftraggeber?“ … Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Ich antwortete knapp, gab einen falschen Namen an, gab eine falsche Redaktion an. Einer der Männer verließ das Büro, der andere hob das Telefon und wählte eine Nummer: „Dann wollen wir mal sehen ob Ihre Angaben stimmen.“ Die Frau saß mir gegenüber und starrte mich zornig an. Der Mann am Telefon stellte sich vor und fragte nach einem Namen, den ich nicht kannte. Natürlich nicht, er rief ja nicht in meiner Redaktion an.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, wie ich da raus gekommen bin. Irgendwann stand ich mit meiner Kamera und meiner Kameratasche auf der Straße, sprang in mein Auto und fuhr herzrasend zurück in die Redaktion. Dort drückte ich dem Fotochef den Film in die Hand, schilderte ihm atemlos was passiert ist. Er runzelte die Stirn, beruhigte mich. Und sagte, dass das schon okay wäre. Ich könne jetzt nach Hause fahren, heute hätte er keinen Auftrag mehr für mich.
Fertig mit der Welt setzte ich mich ins Auto und fuhr die Dreiviertelstunde zurück. Und direkt in mein Appartement.
„Was hast Du getan?!“
Ich lag auf dem alten aufgeklappten Schlafsofa in meinem winzigen möblierten Appartement und starrte an die Decke, als das Wählscheibentelefon klingelte. Es schrillte in meinem Kopf. Ich ging nur dran, damit das aufhörte. Es war mein Freund, der noch in der Redaktion war. „Da bist Du ja! Endlich!! Himmel, was hast Du getan??!“
Ich verstand die Frage nicht. „Wieso, was meinst Du?“ Rolf raunte in den Telefonhörer, dass der Redaktionsleiter außer sich war. Und dass ich sofort kommen sollte. Ich legte auf. Die Decke drehte sich.
Ich ließ meine Fototasche stehen und machte mich auf den Weg.
„Ich kann nichts mehr für Sie tun.“
Der Redaktionsleiter war einer der wenigen Chefs in diesem Verlag gewesen, den ich immer als fair und korrekt erlebt hatte. Er hatte mit dieser Redaktion einen ganz eigenen Stil gefahren, und er hatte diesen oft gegen den Willen der Zentralredaktion durchsetzen müssen. Das Team hatte viele wirklich gute Geschichten im Sinne von Lesern und für Bürger machen können, nicht über oder gegen sie, wie es in anderen Redaktionen leider häufiger der Fall gewesen war. Er ging mit allen Kollegen respektvoll und höflich um. Er gab jungen Talenten Chancen und traute ihnen etwas zu. Er hatte Björns äußerst nachdrückliche Forderungen, mich vor die Tür zu setzen, immer stoisch ignoriert.
Nun saß dieser Mann, den ich so sehr respektierte und auch mochte, mit sehr ernstem Gesicht vor mir. Und fasste mir sehr verärgert und knapp zusammen, warum er mir ein offizielles Schreiben aus der Zentralredaktion übergeben musste, in dem ein verlagsweites Hausverbot gegen mich ausgesprochen worden war.
Er sprach von Hausfriedensbruch, falschen Angaben, Recht am eigenen Bild und dass ich mich über alle Maßen falsch verhalten hätte.
„Aber…!“ ich schnappte nach Luft und erwartete, dass er mich unterbrechen würde. Er tat es nicht. „Aber ich hab doch nur getan, was sie mir gesagt haben!! Ich habe im Auftrag gehandelt! Ich habe genau das getan, was sie mir gesagt haben!“ Ich schilderte ihm alles. Er hörte sich alles an. Er schwieg.
Doch als ich fertig war sagte er: „Es tut mir sehr leid, Sandra. Aber ich kann nichts mehr für Sie tun.“
Man hatte mich reingelegt.
Mein Verlagsverbot war in einem großen braunen Umschlag eingepackt. Die Sekretärin sah mich mitleidig an und flüsterte mir zu, dass ich bis zum Wochenende in meinem Redaktionsappartement bleiben könnte. Als ich in den Paternoster stieg, rannen mir die Tränen über das Gesicht.
Weiter mit Teil 7: Der Abschluss
Kapitelübersicht
Teil 1: Intro – Geschichten mit Björn
Teil 2: Die andere Perspektive
Teil 3: Der Aufzug, oder: Warum kannst Du telefonieren?!
Teil 4: Spring doch!
Teil 5: So wird das gemacht! Bang! Bang!!
Teil 6: Der Abschuss
Teil 7: Der Abschluss
Teil 8: Nachklapp